Architekturbiennale Venedig

Lustvoll bunt und extrem vielgestaltig ist die 15. Architekturbiennale von Venedig, die wie keine andere je gesehene große Architekturschau sich der Krisen und Katastrophen, des Mülls und der Armut unserer Welt annimmt. Wer dies bereits als einen unlösbaren Widerspruch empfindet, wird gewiss in diesem Sommer in Venedig noch öfter genötigt sein, seine Vorstellungen von Architektur zu hinterfragen. Denn Fragen und weniger Formen oder Architekturstars prägen diese Architekturbiennale, die entgegen erster Mutmaßungen keineswegs eine „Biennale der Armen“, sondern vor allem unendlich vielfältige Perspektivenwechsel anbietet – fern aller erwarteten Kargheit, aber erstaunlich reich an ästhetischen Entdeckungen.

Von Claus Käpplinger

Bereits die beiden Eingangsräume der Hauptausstellung im Arsenale und in den Giardini konfrontieren so etwa die Besucher mit dem materiellen Müll unserer vermeintlich so aufgeklärten Kulturwelt. Dort nahm sich Biennale-Direktor Alejandro Aravena, eines Teils des Bauschutts der letzten Kunstbiennale an, genauer 14 Kilometern Aluminiumfaltprofilen und 10.000 Quadratmetern Gipskartonplatten, um ganz sinnlich kontextuell in die Programmatik und den Entstehungsprozess seiner Biennale einzuführen. Eindrucksvoll neu gefügt transformierte er Masse mittels „Re-Use“ in Raumerleben, in höchst ambivalente Eintrittssituationen zwischen Enge und Weite. Doch Achtung, wer hier allzu schnell zu den weiteren Ausstellungsräumen eilen will, geht wichtiger Informationen verlustig. Wer diese Biennale verstehen will, muss sich dieses Mal schon etwas mehr Zeit nehmen, um die über die Wände verstreuten kleinen Tablets und gepinnten Zettelstöße zu entdecken, welche Ideen Aravenas Büro „Elemental“ und die 88 eingeladenen Teams mit ihren Beiträgen zum Ausdruck bringen wollten.

Architekturbiennale 7 ©Francesco Galli, Courtesy of La Biennale di Venezia

Reporting from the Front

Wider die profitorientierte Immobilienwirtschaft und ihre willfährigen Dienstleister erhebt Alejandro Aravenas Biennale den Anspruch Architektur wieder gesellschaftlich zu verorten als einen existentiellen Baustein menschlicher Gemeinschaften und als ein sehr weit gespanntes kreatives, stets neu auszutarierendes Feld von Teilhabe und Gestaltung. Jenseits des gewohnten „Business as usual“ der großen Prestigeprojekte und der austauschbaren Stadtkomplexe der Gegenwart begab sich diese Biennale auf die Suche, welche Möglichkeiten Architektur heute den Menschen noch bieten kann.

Ihr Titel „Reporting from the Front“ ist Bekenntnis und Appell zugleich, sich den Bedürfnissen der Bevölkerungen jenseits der Marktkräfte und ihrer Eliten lokal und konkret zu stellen. Wofür der chilenische Architekt mit burschikoser Aura allen Teilnehmern zur Orientierung 14 Stichwörter an die Hand gab: Begriffe wie etwa Ungleichheit, Segregation, Verbrechen, Verkehr, Umweltverschmutzung oder Migration, die eher die Präsentation strategischer Konzepte als allein architektonischer Objekte nahe legten.

Viele Architekten nahmen sich denn auch dieser Herausforderung erstaunlich komplex, kommunikativ und sensuell überzeugend an, während einige Architekturstars wie Zumthor, Tadao Ando, SANAA, Christ und Gantenbein oder marte.marte hier grandios scheiterten, da sie allein auf die Ästhetik und Aura von Objekten setzten. Dass man die Auseinandersetzung mit Ökonomie, Umwelt oder Gesellschaft keineswegs scheuen muss, darüber sehr wohl zu ästhetischen Installationen gelangen kann, beweisen nun viele Architekten, die in Europa bislang weniger bekannt waren: Architekten und Ingenieure wie die Polen Hugon Kowalski und Marcin Szczelina (Müll in Mumbai), Borde Arquitetos aus Ecuador (Baukosten), Anupama Kundoo (Wohnhäuser in Indien), Liu Jiakun (Megablock), Hollmen Reuter (Shelter), LAN/France (Grande Ensemble), Forensic Architecture (Krieg) oder Ana Heringer (Lehmbau), die komplexe Inhalte eindrucksvoll visuell und informativ zu vermitteln verstehen. Ihre Interventionen und Blickwinkel, die uns oft schwierige, ja sogar sehr düstere Orte und Themen nahe bringen, machen diese Biennale so einzigartig, die allen Krisen und Katastrophen zu Trotz ihren Besuchern vor allem Hoffnung vermittelt, dass Menschen stets zu alternativen Wegen und Lösungen finden können. Weshalb auch eine Handvoll älterer Modellprojekte Eingang in die Biennale fanden. Etwa Luigi Snozzis Alpenkleinstadt Monte Carasso, welche uns wieder die Aktualität sanfter lokaler Strategien und Gemeinschaftskonzepten aus den 1950er bis 1970er Jahren vor Augen führt. Damals, vor der ersten Architekturbiennale von Venedig im Jahre 1980 und der mit ihr auf das engste verbundenen Postmoderne, die bereits auf das Icon- und Starsystem setzten, gab sich Architektur weit weniger artifiziell und – vermeintlich – autonom.

Neudefinition der Baukultur und sinnfreie Materialschlachten

Sinnliches Erleben und aktives Reflektieren bieten auch die meisten der 66 Länderpavillons, deren ungemein weit gefächerte Themenschwerpunkte verdaut werden wollen. Die Nordischen Länder und Dänemark bieten dagegen völlig sinnfreie Materialschlachten von Projekten an, die Gesellschaft nur als eine Frage öffentlichen Bauens oder architektonischer Icons thematisieren. Für die verfallende und bankrotte Metropole Detroit weiß der amerikanische Beitrag nur eine Fülle von aufgeblasenen und erneut in die Höhe strebender Blobs anzubieten, die sich weder den Problemen der Menschen vor Ort stellen noch Partizipation ermöglichen. Russland lässt 2016 sogar den Neo-Klassizismus Stalins als Ausdruck einer harmonischen Vielvölkergesellschaft wiederaufleben. Und Australien begnügt sich nur mit einem Swimmingpool als Ort gepflegten Chillens und Australier-Daseins.

Russian Pavillon ©Vasily Bulanov

Die Fallhöhe einer ethisch fokussierten Architekturbiennale erweist sich für einige Länder so erstaunlich hoch. Im Zeitalter des Internets überraschen nicht zuletzt die zahlreichen Post-its und fetten Abreiß-Papierstapel, die sich allerorten einfanden, um mehr oder weniger verständlich den Sinn des Präsentierten zu vermitteln. Eine vergebene Chance ist leider Österreichs Pavillon, der sich wie Deutschland des Themas Migration annahm. Die eigentlich interessante Präsentation von sehr konkreten und zumeist mit den Migranten gemeinsam entwickelten Interventionen für mehr Privatheit und Gemeinschaft in drei leerstehenden Bürokomplexen in Wien wurde wenig haptisch und sinnlich quasi ins „Hinterzimmer“ verlegt. Den Hauptraum füllt eine Abreiß-Postersammlung mit attraktiven Migrantenporträts, die in ihrer Schönen-Welt-Werbeästhetik einfach nur peinlich ist, wie auch der neue Betonbalken – angeblich ein „Tisch!“ – vor der Tür, der mehr als Schranke denn ein Zeichen des Willkommens wahrgenommen wird. Dass sich der Deutsche Pavillon mit seiner misslungenen Metapher eines offenen Hauses gleich offenes Deutschland sowie der reinen Abbildung der Realität des Flüchtlingsdaseins auch deutlich am Thema verhob, mag wohl an dessen Aktualität liegen.

Architekturbiennale 1 ©Andrea Avezzù

Außerhalb von Europas Grenzen bieten zahlreiche europäische Architekten in Venedig weitaus konstruktivere Beiträge zum Thema Migration (Manuel Herz, TYIN tegnestue), Deshalb sei jedem angeraten, der diesen Sommer oder Herbst seinen Weg nach Venedig findet, eher die vielen kleinen, oft sehr verstreuten Pavillons zu besuchen. Länder wie Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate, die Volksrepublik China, Mexiko, Kroatien, Irland oder Chile bieten neue Sichtweisen und sensible Interventionen auf höchstem Niveau an, die den Blick weiten und andere Kulturen überraschend nahe bringen. Nicht selten in enger Kooperation mit westlichen Architekturschulen entstanden, kann man dort sowohl die Gegenwart als auch die mögliche Zukunft dieser Länder entdecken. Eine Reise um die Welt mit all ihren oft beängstigenden Widersprüchen ist hier innerhalb weniger Tage machbar, an deren Ende jedoch weniger Schrecken als neue Hoffnung steht.

www.labiennale.org