Brennpunkt Istanbul

Schon 1999 wird die Türkei EU-Beitrittskandidat, die Liste des zu erfüllenden Kriterienkatalogs ist lange. 2002 verspricht Premier Erdogan, sein Land EU-tauglich zu machen, die Todesstrafe wird abgeschafft, Folter verboten, die Rechte der Armee werden beschnitten und die der Kurden weitestgehend verankert. Die Beitrittsverhandlungen verlaufen schleppend. 2013 schockieren die Nachrichten vom gewaltsamen Vorgehen gegen Demonstranten mit mehreren Toten am Gezi-Park. Die umstrittenen Bauvorhaben am Taksim, dem Platz der Republik, werden vorerst auf Eis gelegt. 2014 wird Erdogan Präsident und bezieht einen 1.000-Zimmerpalast in Ankara. Mit großen Schritten entfernt sich die Türkei von der Demokratie und entwickelt sich zu einem Führerstaat.

In Istanbul erinnert man sich an Erdogan als einen Oberbürgermeister (1994–1998), der die Millionenmetropole durchgehend mit Wasser und Strom versorgt. Erstmals in der Geschichte Istanbuls wird in den letzten 10 Jahren ein Masterplan unter Leitung von Hüseyin Kaptan angestrengt. Rund 500 Stadtplaner sind jahrelang damit beschäftigt, das wirtschaftliche Zentrum der Türkei neu zu organisieren. Brennpunkte sind ein neuer Finanzdistrikt, erdbebensicheres Bauen, das gigantische Verkehrsprojekt Marmaray, ein Eisenbahntunnel unter dem Bosporus, seit Ende Oktober 2013 in Betrieb, sowie der Ausbau des bestehenden Streckennetzes, um dem drohenden Verkehrskollaps in der Metropole am Bosporus vorzubeugen.

Heute ist die Istanbuler Stadtregierung entmachtet, Anordnungen und Bauvorhaben werden in Ankara verordnet. Das neue Istanbuler Finanzzentrum in Maslak schießt mit Bürotürmen unkontrolliert aus dem Boden, Baugenehmigungen erfolgen mitunter nachträglich. Gececondus, die vielen „Siedlungen über Nacht“ und seit Jahrzehnten genehmigt, werden geschliffen und deren Bewohner umgesiedelt, Istanbul wird erdbebensicher saniert. Der Bauträger TOKI realisiert das groß angelegte Wohnbauprogramm in der gesamten Türkei, finanziert damit die Regierungspartei und sichert langfristig Wählerstimmen. Der ambitionierte Plan des Stadtplaners Kaptan, die ausgedehnte, grüne Lunge im Nordwesten Istanbuls unter Schutz zu stellen, scheitert. Heute durchziehen Schneisen das gesamte Gebiet, das nun Bauland und bereits mit einer Autobahn angebunden ist. Wohnsilos und der dritte Flughafen Istanbuls werden dort in den nächsten Jahren gebaut.

Ein Teil Erdogans politischer Ökonomie ist das Vorhaben, am Taksim die Topçu-Kaserne und eine Moschee nach Plänen des Architekten Ahmet Vefik Alp zu errichten. Die Entwürfe wurden im Mai 2012 vorgestellt und mittlerweile überarbeitet. Seit 2008 ist das Atatürk-Kulturzentrum, AKM, am Taksim – offiziellen Angaben zufolge für Sanierungen – geschlossen und verfällt zusehends. Ein Plan mit einem hohen symbolischen Gehalt: Gerüchte halten sich seit den Gezi-Protesten, dass dieses bedeutende Kulturdenkmal abgerissen werden solle. Saniert wurde das AKM bislang nicht, indes die Inneneinrichtung bis aufs Mauerwerk entsorgt. Ein Versammlungsverbot am Taksim und demonstrativ zur Schau gestelltes Fastenbrechen nach Sonnenuntergang begleiten diese zentrale Dauerbaustelle. Auf dem Çamhca-Hügel thront neuerdings die größte Moschee Istanbuls, zahlreiche neue Moscheen ziehen sich mit pseudo-islamischem Pomp durch die anatolische Seite. Das kemalistische und islamisch-osmanische Kulturerbe wird schlicht ignoriert, auf das sich die Regierung allerorts beruft.

Seit Anfang des Jahres ist die Türkei bereits mehrmals Ziel folgenschwerer Anschläge, die von der Regierung teils dem IS, teils kurdischen Extremisten zugeschrieben werden. Anfang Juni sterben bei meiner Ankunft in Istanbul nach einem Anschlag an der Sultanahmet 11 Menschen. Bei einem Selbstmordanschlag in Istanbul kommen im März vier Menschen ums Leben. Im Jänner reißt ein Selbstmordattentäter im historischen Zentrum Istanbuls 10 Menschen in den Tod. In Ankara sterben im Februar bei einem Selbstmordanschlag 29 Menschen, im März bei einem weiteren Attentat 37 Menschen. Ende Juni sterben bei dem bislang verheerendsten Anschlag auf den Internationalen Flughafen Atatürk, den größten Flughafen der Türkei, mindestens 47 Menschen, über 200 Menschen werden dabei teils schwer verletzt. Generalkonsulate und ausländische Kulturinstitute sind längst von der Istiklal abgezogen. Die Türkei befindet sich in einem bürgerkriegsähnlichen Zustand.

Doris Lippitsch