"Wir verlieren mehr und mehr die Wahrnehmung der feinen Töne"

5.3449019547362e+133 – Eine Lichtinstallation von Siegrun Appelt bei der diesjährigen Biennale Shenzhen (UABB). Ein Gespräch mit der österreichischen Künstlerin über ihre Arbeit in Zusammenarbeit mit Zumtobel, die Herausforderungen in ihrer künstlerischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Licht, Quantensprünge in neuen Lichttechnologien und wie sehr diese unser tägliches Leben verändern werden.

Die Biennale Shenzhen ist weltweit die einzige, die ihren Fokus auf urbane, städtebauliche und architektonische Fragen richtet. Wie bedeutend sind diese urbanen Themen für deine Arbeit?

Siegrun Appelt: Diese Themen sind gerade in der heutigen Zeit wichtig. Bei einer Architekturbiennale wird Architektur zumeist en gros präsentiert, sei es die Formensprache, seien es neue Technologien oder spektakuläre, auch städtebauliche Projekte. Was die Biennale in Shenzhen auszeichnet, ist, dass sie auch aus einem sozialen Blickwinkel betrachtet wird, d.h. dem sozialen Leben innerhalb architektonischer Strukturen. Und wie architektonische Strukturen als Folge von gesellschaftlichen, kulturellen Voraussetzungen entstehen bzw. davon abhängen. Ich konnte mich vor Ort damit befassen.

Die Beschäftigung mit Raum und Licht ist eine Beschäftigung mit Architektur. Denn man baut im wahrsten Sinne des Wortes Räume. Wie ist die Zusammenarbeit mit Zumtobel für deine Lichtinstallation 5.3449019547362e+133 am ehemaligen Dacheng Flour Fabriksgelände entstanden?

Die Zusammenarbeit mit Zumtobel steht in Verbindung mit der Arbeit für das Museumsquartier Wien aus dem Jahre 2005. Das war eine Auftragsarbeit für das Museum für Moderne Kunst, MUMOK, und dem Museumsquartier. Kurator war damals Edelbert Köb. Die Arbeit hatte sich mit dem urbanen Raum, dem urbanen Leben auseinandergesetzt, mit Architektur und Wahrnehmung von Raum. Veränderung von Licht bedeutet auch Veränderung der Wahrnehmung. Diese Themen sind natürlich interessant, wenn man über urbanes Beleuchten nachdenkt. Damit war das die Grundlage für die Lichtinstallation in Shenzhen und Part der offiziellen Ausstellung.

Biennale Shenzhen 1 ©Siegrun Appelt
Im Lichtkegel werden Passanten zu Akteuren, im Schatten zu Beobachtern. Das Licht stellt immer neue Perspektiven der Wahrnehmung her und wird so als Medium wahrnehmbar, das Wirklichkeit strukturiert und auch verändert.

Welche Bedeutung kommt Licht heute dem urbanen Raum zu? Du beschäftigst dich seit Jahren mit Licht, hast sehr viel technisches Know-how, hast aber auch über deine künstlerische Arbeiten viel Erfahrung mit visuellen Möglichkeiten, Lichtgestaltung neu zu definieren. Wie arbeitest du an diesem Zusammenspiel von Technik und künstlerischem Anspruch, der dir einen Vorteil gegenüber Lichtplanern und -technikern bringt?

Die Erfahrung, die ich durch meine künstlerische Auseinandersetzung mit Licht machen konnte, bringt mir im Vergleich zu Lichtplanern und -gestaltern den Vorteil, einen anderen Blick auf den Lichtraum zu haben. Einen detaillierteren Blick aus den künstlerischen Ansprüchen und Ideen, d.h. dass man sehr genau beobachtet, recherchiert, in die Tiefe geht oder eine Arbeit gestaltet, die nicht unbedingt funktional tragbar, anwendbar ist. Die Erfahrungen dieser intensiven Arbeit mit Licht, mit den technologischen Möglichkeiten, aber auch mit den verschiedenen visuellen Medien, Film, Sound, fließen in meine funktionalen Arbeiten mit ein. In manchen Bereichen kann ich dadurch mehr ins Detail gehen, und sehe Dinge eben schneller oder anders als ein Architekt oder Lichtplaner. Ich habe ein eigenes Instrumentarium meiner Erfahrungswelt, mit dem ich umgehen kann und mit dem mir das leicht fällt.

Biennale Shenzhen 2 ©Siegrun Appelt
Während medial vermittelte Bilder üblicher Weise den Blick auf Ursachen und Absichten versperren, verweist Appelts Installation auf den medialen Charakter „jener Bilder, die wir uns von der Welt und unserer Beziehung zu ihr machen“.

Lichttechnologien und Siegrun Appelt?

Lichttechnologie ist für mich wie jede andere Form von Technologie. In den letzten Jahrzehnten hat sich deutlich gezeigt, dass die Dominanz der Technologien immer stärker wird.. Die digitalen Technologien werden immer wichtiger im Alltag. Wir werden immer abhängiger. Sehr früh legte ich meinen Fokus darauf, nicht von der Technologie beherrscht zu werden. Und auch nicht verführt zu werden, sondern zu versuchen, zu verstehen und mit ihr umzugehen.

Um die schnellen Sprünge in technischen Entwicklungen nachvollziehen zu können und sie zu deinem Instrument zu machen?

Ganz genau, sie zu meinem Instrument zu machen und darauf virtuos zu spielen.

Und du bist ständig mit technologischen Veränderungen und Neuerungen beschäftigt?

Ja, es wird immer schneller und komplexer.

Mittlerweile in Intervallen von drei Monaten?

Die Sprünge erfolgen mittlerweile noch schneller, ich würde sagen, fließend. Den Überblick zu behalten ist dabei sehr schwierig. Zudem vereinen sich die verschiedenen Bereiche, wie zum Beispiel in der Gebäudetechnik. Früher war Licht einfach Licht und ich habe mir eine Lampe gekauft und dann eingeschaltet. Heute gibt es aufgrund der neuen Lichttechnologien viele Variationsmöglichkeiten. Für den Alltag wird es immer komplizierter, komplexer und irgendwann stößt man an menschliche Grenzen.

Biennale Shenzhen 3 ©Siegrun Appelt
Licht wird als Quelle und Ursache des Sichtbaren erkennbar. Licht wird so fühlbar – emotional und körperlich: „Wir verlieren mehr und mehr die Wahrnehmung der feinen Töne!“

Welche Vorteile und Nachteile birgt der technische Fortschritt?

Es ist schön, wenn es durch technischen Fortschritt neue Möglichkeiten gibt, mit Dingen umzugehen und sich daraus Verbesserungen ergeben. Doch wer entscheidet, ob und wann das Sinn macht? Das sind Vertreter aus Industrie und Politik, nicht die Wissenschaftler, auch nicht die allgemeine Bevölkerung.

 

Die LED-Technologie ist jung, entwickelt sich aber sehr schnell. Wie sehr wird diese Technologie unser tägliches Leben verändern?

Diese Technologie verändert sich permanent und rasant. Wir passen uns den technologischen Möglichkeiten an. Optimal wäre, diese technologischen Möglichkeiten für uns zu nutzen, im Sinne von Verbesserung. Was Verbesserung bedeutet, müsste man in einem eigenen Gespräch neu definieren. Wenn die neue Technologie also da ist, ist es sinnvoll zu schauen: Was sind die Vorteile, was sind die Nachteile? Und mit dem Wissen, das sich daraus ergibt entsprechend umzugehen. Spannend im Zusammenhang der Forschung, Industrie und Politik ist die Zusammenarbeit. Die einen machen die Technologie, die anderen die Produkte und dann gibt es die Anwendung in der Öffentlichkeit, für die Gesellschaft im öffentlichen Raum.

Wie kann die Zusammenarbeit von Forschung und Industrie optimiert werden?

Bevor neue Produkte entwickelt werden, kann vorab geprüft werden, welches Potential in neuen Technologien liegt, mit dem Ziel ein nachhaltig funktionierendes Produkt zu kreieren und einen Weg für eine optimale Anwendung zu finden. Man findet das natürlich nie ganz, aber man kann sich zumindest ein paar Zwischenetappen in der Entwicklung ersparen, das heißt, man spart sich Ressourcen, und man produziert weniger Abfall. Wahrscheinlich ist das auch ein gutes Geschäftsmodell, nämlich genau zu schauen, was am Ende herauskommen kann anstatt zu versuchen, schneller als alle anderen zu sein um mit mittelmäßigen und weniger nachhaltigen Produkten wettbewerbsfähig zu bleiben ...

Das Gespräch führte Doris Lippitsch.

Lesen Sie das gesamte Interview in der Printausgabe.

Siegrun Appelt, geb. 1965 in Bludenz, ist bildende Künstlerin, gründete 2010 das Projekt Langsames Licht/Slow Light, das einen energieeffizienten und ästhetisch nachhaltigen Umgang mit Licht und Dunkelheit zum Ziel hat. Immer wieder steht Licht im Fokus ihrer Ausstellungen, u.a.: 288 kW im Kunsthaus Bregenz, 2005; 64 kW im Deutschen Pavillon der 11. Architekturbiennale Venedig, 2008; Reale Formulierungen, ISEA/Duisburg, 2010; Graz – Reininghaus bei Licht, Joanneum Graz/KIÖR, 2015.

Bildtext Header: 5.3449019547362e+133 – Siegrun Appelts Lichtinstallation bei der diesjährigen Biennale Shenzhen bis März 2016 mit 72 Scheinwerfern und Steuerungssystem. Hoch zwei: So viele mögliche Lichtvariationen im Zusammenspiel der Beleuchtungssequenzen gibt es und genau das versucht Künstlerin Appelt in ihrer Arbeit mit einfachen Mitteln aufzuzeigen. Ein Menschenleben würde nicht ausreichen, das gesamte Spektrum dieser Möglichkeiten sehen und erleben zu können, in dem auch „Zufall und Notwendigkeit hervortreiben“. Die Scheinwerfer sind auf acht Masten verteilt und zeigen ein präzises Zusammenspiel aufleuchtender und wieder erlöschender Lichteinsätze, die auf ein mit Computer programmiertes Zufallsprinzip beruhen. Lichtspiele für atmendes Licht – Das Licht überspielt die physischen Grenzen und Strukturen des Ortes und verbindet räumlich mit wechselnden Licht- und Schattenkonstellationen.