Das Klischee

Unser Autor arbeitet als Redakteur für ein bekanntes Innenarchitektur-Magazin in Deutschland. Vielleicht liegt es daran, dass er besonders häufig gefragt wird, ob es stimmt, dass alle männlichen Innenarchitekten schwul sind. Entrüstet antwortet er dann immer: „Nein, natürlich sind nicht ALLE Innenarchitekten schwul!“ Und nach einer kurzen Pause fügt er mit einem Lächeln hinzu: „Aber die BESTEN sind es definitiv!“ Für QUER hat er ein paar Beispiele zusammengetragen: Louis Sullivan, Stanford White, Alan Buchsbaum und Jed Johnson waren homosexuell UND sie haben Architekturgeschichte geschrieben. Ihre Biografien verraten auch etwas darüber, wie das eine mit dem anderen zusammenhängen kann.

Von Uwe Bresan

„There is a good deal of evidence –some personal, some architectural –to suggest that Louis Sullivan may have been homosexual.“ –Mit diesen Worten beginnt das erste und wohl auch berühmteste Outing der modernen Architekturgeschichte. Sie stammen von dem Historiker Robert Twombly und stehen auf Seite 399 seiner Mitte der 1980er-Jahre entstandenen Biografie über den Chicagoer Architekten Louis Sullivan, der vielen als der Vater einer von ihren europäischen Wurzeln befreiten, genuin amerikanischen Architektur gilt und der mit seinem Ausspruch „form follows function“ die Moderne beiderseits des Atlantiks prägte. [Robert Twombly: Louis Sullivan. His Life and Work, 1986] Was Twombly in der Person, aber vor allem in der Architektur Sullivans erkannte, das für ihn den Schluss zuließ, der Architekt „könnte“ homosexuell gewesen sein, beschreibt Twombly in einem eigenen Kapitel seines Buches. Hier beschäftigt sich der Biograf vor allem mit dem dekorativen Reichtum von Sullivans Inneneinrichtungen und der überbordenden Ornamentik seiner Bauten. Beides ist für Twombly Ausdruck einer „feminin-emotionalen“ Seite Sullivans, die oft im Widerspruch zu den „maskulin-rationalen“ Grundriss- und Konstruktionslösungen seiner Gebäude steht.

Tatsächlich galt Sullivan spätestens seit der viel beachteten Inneneinrichtung des 1889 eingeweihten Auditorium Buildings in Chicago als der führende Innenarchitekt seiner Generation, während die nicht weniger erstaunlichen, konstruktiven Lösungen des riesigen Hotel-, Büro- und Opernhaus-Komplexes eher seinem Büropartner Dankmar Adler zugeschrieben wurden. Natürlich könnten wir Twomblys Kurzschluss, dem Architekten allein aufgrund seiner Vorliebe für opulent vergoldete und mit floralen Dekorationen angefüllte Räume eine homosexuelle Neigung zu unterstellen, als reines Stereotyp abtun. Andererseits gilt der Satz, dass hinter jedem Klischee immer auch ein klein wenig Wahrheit steckt.

Das Klischee ©Art Institute of Chicago

STANFORD WHITE

Stanford White gehörte zur gleichen Generation wie Sullivan. Er stammte jedoch aus New York, wo er gemeinsam mit seinen Partnern Charles McKim und William Rutherford Mead auch seine größten Erfolge feierte. Berühmt wurde ihr gemeinsames Büro, McKim Mead & White, mit mondänen Sommerhäusern an den Küsten von Rode Island und großen Stadtpalästen für die New Yorker High Society des Gilded Age, des „vergoldeten“, amerikanischen Zeitalters der Stahlbarone, Ölmagnate und Eisenbahnkönige. Zu ihren Auftraggebern gehörten die Carnegies, Rockefellers und Vanderbilts.Für sie entwarf White sündhaft teure Inneneinrichtungen im Beaux-Arts-Stil und importierte aus Europa Möbel, Stoffe und Tapeten, aber auch hölzerne Wand- und Deckenverkleidungen, marmorne Kamine und anderen historischen Zierrat, den er bei Kunst- und Antiquitätenhändlern auf dem ganzen Kontinent erstand. Sie sollten dem neuen amerikanischen Geldadel den Anschein von Historizität verleihen. Zugleich entwarfen McKim Mead & White zahllose öffentliche Bauten für New York – darunter die berühmte Pennsylvania Station, das Municipal Building sowie den Campus der Columbia University –, für die sie Vorbilder aus der europäischen Renaissance-Architektur zitierten. Auch der legendäre zweite Bau des Madison Square Gardens, eines riesigen Vergnügungspalastes im Zentrum von New York mit Veranstaltungs-, Theater-, Konzert- und Kabarett-Sälen für mehr als 10.000 Besucher, war ein Werk der Architekten. White, der für den Entwurf des Gebäudes maßgeblich verantwortlich war, später auch ein Apartment innerhalb des Komplexes bewohnte und schließlich unter tragischen Umständen auf der Dachterrasse des Madison Square Gardens ums Leben kam – er wurde von einem psychopathischen Millionärssohn erschossen, der anschließende Prozess ging als Trial of the Century in die Geschichte des damals noch sehr jungen 20. Jahrhunderts ein –, arbeitete für die Ausgestaltung eng mit dem Künstler Augustus Saint-Gaudens zusammen. Mit dem Bildhauer, der unter anderem die den Turm des Gebäudes bekrönende Diana-Figur schuf, verband White, wie wir heute wissen, eine lebenslange Liaison. Den wahren Charakter ihrer Beziehung, die in der Vergangenheit immer wieder als Künstlerfreundschaft und enger Männerbund gedeutet wurde, konnte erst Mosettte Broderick entschlüsseln, die für ihre 2011 erschienene, fulminante Studie über McKim Mead & White auf Briefe Whites und Saint-Gaudens zurückgreifen konnte, die bisher von den Nachfahren unter Verschluss gehalten wurden [Mosette Broderick: Triumvirate. McKim Mead & White. Art, Architecture, Scandal, and Class in America´s Gilded Age, 2011]. Besonders bemerkenswert ist, dass diese Briefe nicht nur die homo­erotische Beziehung der beiden Künstlerpersönlichkeiten offenbaren, sondern auch auf einen größeren Kreis von Männern aus dem Umfeld Whites und Saint-Gaudens hindeuten, der sich zu regelmäßigen, sexuellen Ausschweifungen traf. Dieser so genannte Sewer Club umfasste sowohl gemeinsame Künstlerfreunde Whites und Saint-Gaudens als auch Mitarbeiter des Büros McKim Mead & White sowie – besonders pikant – nicht wenige, prominente Auftraggeber des Büros.

Das Klischee ©Library of Congress

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Foto: © Library of Congress
Foto: © Art Institute of Chicago
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