„It is always interesting to read about yourself!“
Yona Friedman ist zweifelsohne einer der vielseitigsten und eigenwilligsten Architekten, Designer, Stadtplaner und Architekturtheoretiker der Gegenwart. Sein Manifest Architecture mobile (1958) war seiner Zeit weit voraus und wird nun von einer akuten Aktualität eingeholt.
Von Doris Lippitsch
Friedmans Pariser Atelier in einem gewöhnlichen Haussmann-Gebäude am Boulevard Garibaldi nennt Manuel Orazi einen geheimen Ort oder ein „sancta sanctorum“, in dem sich Zeichnungen, Modelle, mobile Architekturen und allerlei Krimskrams zu Ready mades türmen.
Yona Friedmans Wohnung und Atelier in Paris am Boulevard Garibaldi, ein „sancta sanctorum“ oder Räume, die andere öffnen und erschließen.
Der 1923 in Budapest geborene Friedman wurde in den späten 1950ern und 60ern bekannt. Er prägte die Dekade der Megastrukturen entscheidend mit, eine Bezeichnung, die der britische Architekt Peter Smithson verwendete, als er 1960 von Architekt Kenzo Tanges Plan für Tokio sprach.
Im Zweiten Weltkrieg floh Yona Friedman vor den Nazis aus Ungarn nach Haifa und studierte Architektur. 1957 emigrierte er nach Paris, wo er schließlich 1966 eingebürgert wurde und seit 1968 mit seiner Frau Denise Chavrain lebt. Mit Ionel Schein, Walter Jonas u.a. gründete Friedman 1965 die Groupe International d’Architecture Prospective (GIAP).
Soeben ist das Buch The Dilution of Architecture erschienen, das Hader Seraj über Friedmans visionäres Werk bei Park Books herausgegeben hat. Friedmans vielseitiges Schaffen setzt sich aus Zeichnungen, Entwürfen, Modellen, mobilen Architekturen und Skulpturen, theoretischen Texten und animierten Filmen zusammen. Friedmans Filme haben seine Zeichnungen und Entwürfe im Laufe der Jahre maßgeblich beeinflusst. Seine Frau Denise hat ihn wiederum zum Filmen gebracht.
In einer Art Vorwort schreibt Friedman:
„It is always interesting to read about yourself and your work as part of history (a very small part). It gives you the impression that you „don’t know this person.“
Seine persönlichen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg waren prägend und Anstoß für seine Raumstadtkonzepte, die Ville Spatiale: Wohnraum wurde schnell und überall für die vielen Flüchtlinge in den zerstörten europäischen Städten benötigt. Auch im 1948 gegründeten Staat Israel landeten täglich tausende heimatlose Menschen, die entweder vor den Nationalsozialisten oder den sowjetischen anti-jüdischen Pogromen auf der Flucht waren. Friedmans Raumstadtentwürfe haben den Begriff der Megastrukturen in der Architekturgeschichte maßgeblich geprägt.
Friedmans Raumstadtkonzepte und die Architecture mobile Im Mittelpunkt seiner visionären Ideen stand stets der Mensch. 1958 veröffentlichte Friedman sein Manifest L’Architecture mobile, das als Doktorarbeit (PhD These) gedacht, aber abgelehnt worden war. Es war seiner Zeit weit voraus. Die Ausdehnung der Städte wurde darin alles andere als mit herkömmlichen Planungsmethoden gedacht. Eine Methode, rasch Wohnraum zu schaffen, stellte beispielsweise sein Building with containers dar.
THE SETTLEMENT REVOLUTION.
User determination makes settlement works.
User determination is better than governmental planning.
User determination solves problems governments cannot solve ...
Friedmans Slogan für den Architekturkongress 1956 in Dubrovnik, bei dem sein Manifest Architecture mobile vorgestellt und diskutiert wurde.
Friedmans Raumstädte sind Megastrukturen über bestehenden Städten, von Paris, New York, Tokio bis Tunis und Dar es Salaam. Das Manifest der mobilen Architektur oder Ville Spatiale, Friedmans Raumstadtkonzepte, sind zugleich Gründungsdokument der Groupe d’étude d’architecture mobile (GEAM), die der japanische Architekt Tange mit seiner wissenschaftlichen Expertise unterstützte. Friedmans Architecture mobile war mit den Metabolisten, den Vertretern der japanischen Nachkriegsarchitektur, verbunden. Die Idee einer Gesellschaft als eine lebendige Form in ständiger Veränderung entsprach der traditionellen buddhistischen Lehre von Seelenwanderung und der vergänglichen Natur aller Dinge. Diese Wahrnehmung spiegelte sich in der Architektur und vor allem in der Stadtplanung. Dazu zählte Friedmans Konzept der Brückenstadt.
„Friedman in fact has been the Daddy of the megastructure, which can move across any kind of terrain.“ Peter Cook
Ville Spatiale oder Raumstadt: Paris, Centre Georges Pompidou: Erweiterung des Centre Georges Pompidou, Paris, 2008. „I thought that the building’s exteriour should change with every new exhibition.“ Yona Friedman in Yona Friedman, Drawings & Models 1945–2010, Paris, Presses du Réel, p. 356.
Mit diesen Entwürfen setzt Friedman die Grundlage für eine visionäre Architektur, die sich durch soziale Mobilität auszeichnet, d.h. die Bewohner der Zukunft gestalten ihr Lebensumfeld flexibel und vor allem selbst. Friedman formuliert 2013 in Architecture as Improvisation, wie wichtig Versuch und Irrtum sowie spontanes Improvisieren als neue Methode in der Architektur sind und mit der Technik der Ville Spatiale, der Raumstadt, Raumketten und Meuble + plus – die Umwandlung einer Wohnung mithilfe von quasi-Kabinen in Einrichtung – ermöglicht werden können. Auf den ersten Blick scheint Improvisation jedoch unvereinbar mit einer Architektur, wie sie an Schulen gelehrt wird und für Dauer und in symbolischer Weise für die Ewigkeit steht.
„Improvisation seems, at first sight, a term incompatible with architecture. Indeed, architecture, as taught in schools, implies long duration, eternity, in a way. All historically famous buildings did not disappear, at least not without leaving traces.“
Mobile Architektur aber ist per Definition kurzlebig. Ihr Volumen, ihre Formen und Elemente wechseln je nach Zusammenhang und Notwendigkeit, diese Architektur wird laufend auf die Bedürfnisse der Nutzer abgestimmt. Improvisation geschieht jedoch nicht auf dem Papier, sondern auf der Baustelle selbst – kostengünstig, mit Bauteilen, die ohne spezielle Maschinen und ohne jede Expertise von Spezialisten oder Sachverständigen leicht zu handhaben und zusammenzufügen sind.
Das Ergebnis von Improvisation in der Architektur ist reichhaltig, schreibt Friedman. Improvisierte Architektur ist Raum-Zeit-Architektur, ihre räumliche Konfiguration bewegt sich in der Zeit, in der Jetzt-Zeit. Improvisierte Architektur ist nicht funktional im Sinne des Bauhaus-Funktionalismus. Auch nicht ästhetisierend, selbst wenn sie ästhetische Wirkung haben kann. Es handelt sich schlicht um „Lebensarchitektur“, die keiner Theorie unterworfen ist: „Personalizing diluted architecture is particularly inviting for improvisation.“ Yona Friedman, „Space-Time“ Architecture, April 2013.
„Commissioned in the 1950s for some family houses, I found that there was no way to communicate with my clients. I discovered the effective non-communication and tried to forge my theory about it.“
Friedmans architektonische und städteplanerische Ideen waren ihrer Zeit weit voraus. Die Ville Spatiale als „Mobilität im Leben“ ist ständigen Veränderungen ausgesetzt und basiert auf einer Infrastruktur, die Wohnraum schnell und flexibel schaffen kann. Diese Ideen beschäftigten Generationen von Stadtplanern und Architekten und sind bis heute ungebrochen aktuell.
„I’m not an utopist, but a realist. My realism is not of the same breed as that of mainstream architects. That is may main discovery.“
Das Buchprojekt entstand im Zuge der Ausstellung „Yona Friedman – Genesis of a Vision“, mit Archizoom an der École Polytechnique Fédérale de Lausanne in der Schweiz im Jahre 2012. Der erlesenen Publikation ist es wunderbar gelungen, Friedmans visionäre Arbeiten der letzten Jahrzehnte übersichtlich und verständlich zu präsentieren. Die einzelnen Projekte sind klar strukturiert, reichhaltig illustriert und mit zahlreichen Faksimiles ergänzt. Im zweiten Teil führt Manuel Orazi in die vielfältige, mitunter sprunghafte Ideenwelt des Yona Friedman ein und ergänzt um zahlreiche theoretische Texte, Fotos, Skizzen aus der Feder Friedmans und um ein Interview, das er mit ihm führte. The Dilution of Architecture ist unbedingt empfehlenswert und sollte in keiner guten Bibliothek fehlen!
Yona Friedman Manuel Orazi
The Dilution of Architecture
Edited by Nader Seraj, mit einem Interview von Manuel Orazi
Englisch, 584 Seiten, über 700 Abbildungen, Skizzen und Entwürfe
2015, Park Books, Zürich, Archizoom–EPFL, Lausanne
ISBN 978-3-906027-68-5