Raum, Zeit, Liebe - Architektur und Ekstase

Erigiert nichts, wenn Sie den Ares Tower sehen? Sie werden nicht feucht im neuen Hauptbahnhof? Fehlt es Ihnen an Phantasie? Vielleicht liegt es aber nicht an Ihnen, sondern an der Architektur. 

Von Sabine Pollak

Wenn die Stadt sich sommerlich aufheizt, ist Körperlichkeit präsent, auch in den Architekturbüros. Wir zeichnen Häuser und denken an Anderes. Wie wäre es, wenn wir beides zusammenführten? Den Raum und das Körperliche? So wie Poliphilio, der Held in der Hypnerotomachia Poliphili, eine italienische Romanzo d’amore aus dem 15. Jahrhundert.

Poliphilio denkt an Frauen und kommt bei Architektur. Je ausgeschmückter die Formen, desto größer die Lust. Die Autorschaft der Geschichte ist ungewiss. Mal wurde das Buch einem dominikanischen Mönch, dann einem römischen Baron und schließlich dem Renaissancearchitekten Leon Battista Alberti zugeschrieben. Für Alberti sprächen Poliphilios Obsessionen mit der Geometrie und den mechanischen Erfindungen, so argumentiert die Architekturtheoretikerin Liane Lefaivre.

Der Text handelt von Erregung, regt an zu Imaginationen und bleibt rätselhaft, so wie die unübersetzbaren Hieroglyphen, die den Illustrationen beigefügt sind, die Texte in Bildformen und der Sprachenmix (griechisch, hebräisch, arabisch). Die Geschichte erzählt vom jungen Poliphilio. Er muss ständig an seine entfernte Geliebte Polia denken und leidet daher unter Schlaflosigkeit. Als er in der Morgendämmerung endlich einnickt, hat er einen erotischen Traum. Poliphilio wandert durch phantastische Landschaften und dunkle Wälder. Er trifft Königinnen, Nymphen, Satyren, Tänzer und Drachen und streift Tempel, Pyramiden und Gärten, ein Hippodrom, ein Kolosseum, ein Amphitheater, ein Badehaus, eine Grotte, ein Labyrinth und ein Gebäude in Elefantenform. Poliphilio stößt in seinem erotischen Traum vor allem auf Architektur. Beim Anblick dieser gigantischen Typologiengeschichte erfährt er die höchste aller nur denkbaren Lüste. Poliphilio erregt sich an Architektur.

Besessen von Architektur

Auch wenn es stark nach Sublimierung klingt, steht diese Geschichte auch für die Bedeutung des Träumens im kreativen Prozess der Architekturproduktion. Wenn das Alltagsgeschäft dominiert, muss Ablenkung her, sonst bewegt sich nichts im Projekt. Da kommt die Hitze gerade recht. Ohne Form keine Lust, und umgekehrt reduziert sich Architektur ohne Lust auf die nicht mehr weiter deutbare Funktion. Die Hypnerotomachia Poliphili bestärkt auch den Mythos des von Architektur besessenen Mannes, der Gebäude mit Frauen und Bewohnen mit der Eroberung des weiblichen Geschlechts gleichsetzt. Was sonst sollte das Errichten von Architektur sein, wenn nicht ein erfolgreich vollzogener Geschlechtsakt?

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