Das Geheimnis von Paul Rudolph

Seine großen Erfolge feierte Paul Rudolph in den 1950er und 1960er Jahren. Damals galt er als Star der amerikanischen Architekturszene. Doch die vergaß Rudolph schnell, als sein Stern Anfang der 1970er Jahre zu sinken begann. Unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit errichtete sich Rudolph dann um 1980 in New York ein einzigartiges Penthouse, in dem die fast barocke Raumspielkunst des Architekten ihren Höhepunkt erreichte. Bis heute ist sich die Architekturgeschichte über die wahre Bedeutung des Gebäudes, in dem Rudolph gemeinsam mit seinem Lebensgefährten Ernst Wagner wohnte, uneins.

Von Uwe Bresan

Die Interpretation eines künstlerischen Werkes über die private Biografie seines Schöpfers ist in Kunst-, Musik- oder Literaturgeschichte schon lange geübte Praxis. Ganz selbstverständlich darf dabei auch die sexuelle Identität des Künstlers berücksichtigt werden. Ja, sie muss mitunter sogar Eingang in den Prozess der Deutung finden. Was verstünden wir etwa von der Kunst David Hockneys, der Musik Peter Tschaikowskis, der Literatur Jean Cocteaus oder den Filmen Luchino Viscontis ohne das Wissen um deren Homosexualität?

Progressive Architecture ©Progressive Architecture, Februar 1964
1964 überblendete "Progressive Architecture" ein Porträtfoto Paul Rudolphs mit einer Aufnahme seines Art + Architecture Building: Sein militärisch wirkender Kurzhaarschnitt signalisiert eine steife, männliche Beherrschtheit. Ihre Entsprechung findet diese nach außen getragene Seite von Rudolphs persönlichkeit in zahlreichen seiner Bauwerke.
Foto: Progressive Architecture, Februar 1964

PAUL RUDOLPHS NEW YORKER PENTHOUSE

Das legendäre Penthouse etwa, das sich der New Yorker Architekt Paul Rudolph (1918-1997) Ende der 1970er Jahre in Beekman Place am Rande des East Rivers und in unmittelbarer Nähe zum Sitz der Vereinten Nationen baute, würde sich in seiner komplexen Grundstruktur nur unzureichend erschließen, ließe man das private und öffentlich kaum bekannte Zusammenleben Rudolphs mit seinem Partner Ernst Wagner in der Analyse unberücksichtigt. Vielmehr noch, so scheint es, findet die ganze Persönlichkeit des Architekten in dem vier Geschosse umfassenden Dachaufbau ihren stärksten Ausdruck. Vielen Zeitgenossen galt Rudolph, der ohne Zweifel zu den führenden amerikanischen Architekten seiner Generation gezählt werden darf, als verschlossen und unnahbar. Schon sein militärisch wirkender Kurzhaarschnitt signalisierte – sicher nicht unbewusst – eine steife, männliche Beherrschtheit und Strenge.

Timothy Rohan, einer der profiliertesten Kenner von Rudolphs Werk, interpretiert diese später zu einem Markenzeichen von Rudolphs Bauten avancierte Betonbehandlung als „hyper-maskuline“ Geste, mit der der Architekt das ganz andere Wesen seiner Innenräume – und letztlich das „Geheimnis“ um seine eigene Person – zu maskieren suchte [Timothy M. Rohan: The Architecture of Paul Rudolph, Yale University Press, 2014].

RÄUME, DIE SICH IHRER ERFASSBARKEIT ENTZIEHEN

Tatsächlich überraschen Rudolphs brutalistische Großbauten im Inneren durch die sensible Behandlung der Themen Raum, Material und Farbe. Gerade für europäische Besucher, die Rudolphs Bauten oft nur aus zeitgenössischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen kennen, vermitteln vor allem die weichen, rot oder orange leuchtenden Teppichböden, die der Architekt in vielen seiner öffentlichen Bauprojekte verwendete, einen vollkommen unerwarteten Eindruck, der zunächst nur schwer mit dem äußeren Bild der Bauten an sich beziehungsweise mit unserer Vorstellung des amerikanischen Beton-Brutalismus in Einklang zu bringen ist. Gleichzeitig eröffnet sich im Inneren ein reiches, fast schon barockes Spiel mit Raum, der sich oft über mehrere Ebenen hinweg öffnet und dadurch vielfältigste Blick- und Wegebeziehungen generiert – sich mitunter aber auch in seiner labyrinthischen Struktur einer vollständigen Erfassbarkeit entzieht.

Rechts: der "offizielle" Wohnbereich paul Rudolphs ©Entwurf: Library of Congress, Prints and Photographs Division

Rechts: der „offizielle“ Wohnbereich Paul Rudolphs, der sich über große panoramascheiben zum East River hin öffnet – links: der „geheime“ Wohnbereich seines Lebensgefährten Ernst Wagner, über dessen Existenz wohl die meisten Besucher Rudolphs im Unklaren gelassen wurden.
Entwurf: Library of Congress, Prints and Photographs Division

EINE ANDERE ARCHITEKTURGESCHICHTE

An zwei Stellen hat Rudolph auf geradezu spektakuläre Weise die zwei ganz unterschiedlichen Welten seines Penthouses optisch miteinander verbunden. Zum einen installierte er in einem zu seinem„offiziellen“ Wohnbereich gehörenden Badezimmer einen gläsernen Waschtisch, der in den Luftraum der vermeintlichen „Bibliothek“, den Wohnraum seines Lebensgefährten, auskragte. Zum anderen gab er dem großen Whirlpool in seinem privaten Badezimmer einen gläsernen Boden, der sich unmittelbar über Wagners Schlafzimmer und dessen Bett öffnete. Begründet hat der Architekt diese auch im Schnitt deutlich zu erkennende Anordnung immer wieder mit der Notwendigkeit einer natürlichen Belichtung des „Gästezimmers“, das dadurch direkt an einem über dem Whirlpool gelegenem Oberlicht partizipiert. Natürlich lässt sich mit solch vermeintlich funktionalistischer Stringenz vieles begründen, weshalb die Architekturgeschichte gern auf so saubere Erklärungen zurückgreift. Ob damit jedoch der wahre Kern einer Sache getroffen wird und sich die Umsetzung einer bautechnisch so hochkomplexen Konstruktion allein mit der Belichtung eines „Gästezimmers“ hinreichend erklären lässt, bleibt fraglich. Eine andere Architekturgeschichte jenseits der engen Grenzen, in denen sich die Profession vor allem im deutschsprachigen Raum bewegt, könnte zweifellos auch zu ganzanderen Einsichten gelangen. ...