Intuitive Antipasti oder Die kandierte atmosphärische Elektrizität

Essen. Kein Kunstfestival ohne Garküche, keine Quartiersentwicklung ohne Kochprojekt und keine Galerie ohne Künstlerkoch. Kollektives Kochen und Essen haben Konjunktur und dienen zunehmend als Taktiken, um Stadträume zu beleben.

von SABINE POLLAK

Mehr als hundert Jahre nach der ersten und fünfzig Jahre nach der zweiten Frauenbewegung wird wieder gekocht, gegärtnert und gestrickt. Nicht nur von Frauen, auch von Männern, immerhin. In den 1970er Jahren forderten Frauen, dass das Private politisch zu sein habe. Heute dienen diese bis dato privaten Praktiken vielfach dazu, den öffentlichen Raum neu zu beleben. Wenn die Stadtplanung nicht weiß, wie sie Leerräume bespielen soll, müssen bewährte Praktiken her(halten). Das ist alles schön und gut, es geht aber am grundsätzlichen Problem einer ratlosen Planung vorbei. Bis vor kurzem hatten (vor allem männliche) Architekten wenig mit dem Kochen und ähnlichen Haushaltspraktiken am Hut. Jahrhundertelang war das Zubereiten von Mahlzeiten bis auf meist gescheiterte sozialistische Lebensmodelle Teil individueller Hausarbeit und wurde hauptsächlich von Frauen erledigt. Eindeutige Abgrenzungen zwischen privat und öffentlich lösen sich zunehmend auf und damit auch die damit verbundenen tradierten Geschlechterrollen. Kochen (und Stricken und Gärtnern) hat sich von alten Traditionen befreit und lebt neu auf. Wer im öffentlichen Raum mitspielen will, muss also mitkochen. Das selbst gezogene Gemüse im Urban Gardening wird als Widerstand gegen mangelhafte Supermarktprodukte verstanden, das gemeinsame Essen als Initiationsritus einer neuen Gemeinschaft, und Rezepte zu tauschen gilt als Integrationsmittel unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen. Das mag funktionieren und befreiend wirken, meist überwiegt jedoch der Spaßfaktor, und eine nachhaltige Veränderung von Stadtraum ist eher selten.

Über den Guten Ton ©Futuristische Küche Über den guten Ton1 ©Futuristische Küche
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Es ist serviert
Dabei ist gerade das Essen bei Tisch jene Praktik des Privaten, die mit den meisten Regeln und Codierungen besetzt ist. Im westlichen Kulturkreis entwickelten sich im 17. Jahrhundert die bis heute weitgehend gebräuchlichen Tischsitten. Gründe dafür waren ein wachsender Individualismus, eine neue Vorstellung von Hygiene, ein differenzierteres Speiseangebot und damit verbunden, komplexere Werkzeuge. Die größte Bedeutung der Tischsitten lag jedoch in der Markierung sozialer Unterschiede. Sitzordnung bedeutete patriarchalische Rangordnung. In vielen Kulturen durften Frauen lange Zeit nicht am selben Tisch essen wie Männer, in bäuerlichen Kulturen ist bis heute der Platz an der Schmalseite, der am weitesten von der Küche entfernt ist und den offenen Blick in den Raum gewährt, dem Mann als Oberhaupt der Familie vorbehalten. In bürgerlichen und adeligen Kreisen wurde zwischen Dienstboten, Herrschaften, Erwachsenen und Kindern getrennt. Viele der Regeln gelten bis heute, auch wenn sich das Essen selbst, also die Speisenfolgen, Zutaten und Kaloriengehalt stark veränderten. Ein herzogliches Festessen am Hofe des Schlosses Esterházy in Eisenstadt bestand etwa noch aus 16 verschiedenen Suppen, 13 Vorspeisen, 28 Hors d´Oeuvres, 16 Braten, 12 Zwischengerichten und 57 unterschiedlichen Desserts. Über die Jahrhunderte hindurch wurden Tischsitten verfeinert, gelockert und verbreitet. Noch 1956 beinhaltete der „richtig“ gedeckte, mitteleuropäische Tisch über fünfzig Regeln, die die exakte Lage der Gedecke beschrieben und zugleich die exakte Ausübung der Praktiken bei Tisch codierten, also den Körper bei Tisch disziplinierten.

Von den Tableaux piège über Wirklichkeitsausschnitte zum Einrexen
Bevor die Architektur und Stadtentwicklung sich des Kochens (und Essens) als Taktik annahm, war es, wie so oft, die Kunst. Mit der „Eat Art“ wurde in den 1960er Jahren ein Oeuvre eröffnet, das einer allgemeinen Annäherung von Kunst und alltäglicher Lebenspraxis entsprach. 1960 wurden am Pariser Festival d´Art d´Avantgarde erstmals so genannte „Fallenbilder“ oder „Tableaux piège“ ausgestellt. Ihr Erfinder war Daniel Spoerri, der sie als „optische Lektionen über unbewusste Kreuzpunkte menschlicher Tätigkeiten“ bezeichnete und verbot, sie als Kunstwerke zu betrachten. Was sind Fallenbilder? Fixierte und zufällige Wirklichkeitsausschnitte aus Objekten und deren Unterlage, aus Tischtuch und Gedecken, die nach einem Essen von einer horizontalen in eine vertikale Lage gebracht wurden. Es gibt keine identischen Fallenbilder. Als 1964 in der Galerie Allan Stone in New York 31 Tische mit denselben Gedecken aufgestellt wurden, entstanden danach 31 unterschiedliche Fallenbilder. Sie zeichnen die Spuren einer Einladung zum Essen auf, wie Teller mit Essensresten, Baguette-Krümel, volle Aschenbecher und umgeworfene Weingläser. Oder sie zeigen den eingefrorenen Zustand eines plötzlich abgebrochenen Essens, wie zum Beispiel durch die plötzliche Verkündung, es handle sich bei dem servierten Gulasch um Pferdefleisch. Mittlerweile hat Spoerri sein letztes Fallenbild begraben, sich anderen Dingen zugewandt und ist nun aber doch wieder beim Kochen angelangt - mit der 2011 eröffneten Koch-Galerie im niederösterreichischen Weinviertel.

Futuristische Küche ©Archiv Futuristische Küche1 ©Archiv

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Kochen und Essen verändern die Welt
Das zumindest glaubte Filippo Tommaso Marinetti, der Begründer des italienischen Futurismus. 1932, also mehr als zwanzig Jahre nach der Niederschrift des Futuristischen Manifests, hatte er wohl die Vorahnung von einer High-Tech-Cuisine. Wie sollte sich eine ganze Nation verändern, wenn Kochen und Essen gleich bleiben? Wie sollte Italien jemals den Krieg gewinnen, wenn Soldaten von schwerer Pasta vollgestopft sind? Also sollte Abhilfe her. Marinetti begann, über das Essen an sich nachzudenken. Die Gruppe rund um ihn traf sich zu thematischen Banquettes. Man entwickelte Rezepte, die das tradierte Italien des 19. Jahrhunderts in ein neues, dynamisches Italien überführen sollten. La Cucina Futurista (Das Futuristische Kochbuch) eignet sich nur mäßig als Anleitung zum Kochen, vielmehr als subversive Unterwanderung alltäglicher und konventioneller Praktiken. Die neuen Menüs waren leicht, dynamisierend, technisch und synästhetisch, bezogen alle Sinne mit ein, wobei der visuelle Reiz sichtlich überwog: Spinat mit Tomaten, Eiweiß und Pflaumen, darin aufgetürmt eine stehende Salami, umgeben von reifen Kirschen, garniert mit Geranienblüten! Voller Symbolismus und Heroik huldigen die Gerichte dem Krieg und Sieg oder bieten Menüs für nahezu alle (neuen) Lebenslagen an: „Intuitive Antipasti“, „Totalreis“, „Das exaltierte Schwein“, „Die Landschaften Italiens“,„Elastikkuchen“, „Die kandierte atmosphärische Elektrizität“, „Alpine Liebe“ oder „Stahlhuhn“. Je nach Thema wurden ungewöhnliche Orte für den Konsum der Banquettes gewählt, wie etwa das „Aeropictorial Dinner“, das im Cockpit eines Flugzeugs konsumiert werden sollte. In Turin eröffnete 1931 „La Taverna del Santopalato“ (Die Taverne zum Heiligen Gaumen), von Architekt Nikolay Diulgheroff und Maler Fillìa (Luigi Colombo) hauptsächlich in Aluminium ausgestattet, jenem Stoff, der ebenso leicht und elastisch war wie die Speisen und auch mit der Luftwaffe assoziiert wurde. Zu den Menüs wurde eine eigens komponierte Musik gespielt („conmusica“) oder wurden Geräusche erzeugt wie jene von Motoren („conrumore“), Lichtreflexionen hervorgerufen („conluce“), Parfums versprüht („conprofumo“), der Tastsinn wurde durch Samt, Reibpapier oder Fell („contattile“) neben dem Teller angeregt. Schon bei seiner Entstehung fand La Cucina Futurista wenig Anklang. Zum einen befand sich Italien gerade in einer ökonomischen Krise und hatte wenig Verständnis für exaltierte Rezepte, zum anderen hatte es sich Marinetti letztlich mit ganz Italien verscherzt, als er die Maxime „Pillen statt Pasta!“ ausgab!
 

La Cucina Futurista ©Fotos: Sabine Pollak/Archiv

La Cucina Futurista ©Fotos: Sabine Pollak/Archiv

Tennis Chop ©Fotos: Sabine Pollak/Archiv
La cucina Futurista


Wechselwirkung Körper und Architektur
Architekten fassten das Kochen weniger als weltveränderndes Prinzip denn als funktionales Problem auf, das durch geschickte Anordnung gelöst werden konnte. Eine Ausnahme war der seit jeher an der Wechselwirkung von Körper und Architektur interessierte Richard Neutra. In dem 1952 veröffentlichten Buch „Gestaltete Umwelt“ vergleicht der 1925 in die USA emigrierte Architekt Raumerfahrungen des Menschen mit dem Verdauungsvorgang. Die Umwelt müsse in „individuellen Bissen zerkaut“ werden, zum Glück gäbe es das „Eigensekret“, ein jedem Menschen innewohnender Ordnungssinn, der Reizüberflutung zu einem „verdaulichen Brei“ vermischt. Neutra bezieht in seinen Schriften keine klare Position zwischen einer notwendigen Reizreduzierung und der Architektur, die ganz im Sinne der Futuristen synästhetisch anregen soll. Er prägt den Begriff „Biorealismus“, eine Mischung aus Realitätssinn und Biologie, Technologie und physio-psychologischer Bedürfniserfüllung. Die Möblierungen, die er für Wohnungen und Häuser entwirft, folgen dieser schwierigen Balance. Sie eignen sich für Massenproduktion und sind dennoch höchst anpassbar an die individuelle Physis und (neue) Gewohnheiten. Der 1952 entwickelte „Kameltisch“ lässt sich vom flachen Couchtisch in einen Esstisch normaler Höhe verwandeln und sich zu einem Dinnertisch für vierzehn Personen erweitern. Zudem arrangierte Neutra in seinen ab 1929 rund um Los Angeles errichteten Häusern oft eine erstaunliche Zahl an Essplätzen. Essen, so Neutra, würde sich wohl eher in Richtung einer Trennkost entwickeln und zukünftig weder gemeinsam noch zu einer geregelten Zeit stattfinden (wie wahr!). Als ich vor einigen Jahren Dion Neutra kontaktierte und diesbezüglich nachfragte, meinte dieser allerdings, er könne sich an keinerlei Trennkost- oder Diätprinzipien seines Vaters erinnern. Der einzige Versuch, der ihm in diesem Zusammenhang einfiel, war, dass sein Vater einmal versehentlich, als seine Frau nicht zu Hause war, die für den Hund bestimmte Wurst im Kühlschrank gegessen habe.

Auch wenn sich Esstische (wie auch Betten) seit Jahrhunderten in Höhe, Proportion und Größe kaum verändert haben, so lassen sich dennoch gerade an diesem Möbel die meisten Veränderungen privater Praktiken festmachen. Als familiärer Versammlungsort beginnt er sich nun nahezu aufzulösen, wie Neutra es formuliert hatte. Handelt es sich um eine Abkehr von Traditionen? Immerhin hatte sich rund um den Ecktisch in der Wohnküche die NS-Vollfamilie drei Mal täglich zu versammeln, so die Doktrin der Wohnraumfibeln. Vielleicht hat es aber auch nur mit einer Umkehr von Ess-, Lebens- und Kommunikationsformen ganz allgemein und einem Rückzug in das Intimste des Privaten, vor Laptop, iPad oder Fernseher zu tun. Wenn die private Kommunikation rund um den Esstisch verschwindet, wandern Kochen und Essen in den öffentlichen Raum der Stadt. Nimmt das Ritual des gemeinsamen, privaten Essens nur in unserem Kulturkreis ab? In Frankreich wäre ein Tag ohne gemeinsames Abendessen nahezu undenkbar.

Richard Neutra: Haus Kaufmann, 1947, Kalifornien ©David Glomb, Rancho Mirage, Kalifornien. In Lamprecht, Barbara - Richard Neutra 1892 - 1979. Gestaltung für ein besseres Leben. Taschen 2006, S. 59
Richard Neutra: Haus Kaufmann, 1947, Kalifornien ©David Glomb, Rancho Mirage, Kalifornien. In Lamprecht, Barbara - Richard Neutra 1892 - 1979. Gestaltung für ein besseres Leben. Taschen 2006, S. 59

richard neutra: Haus Auerbach, 1953, Kalifornien ©Foto: Julius Shulman. In: Lamprecht, Barbara: Richard Neutra 1892 - 1979. Gestaltung für ein besseres Leben. Taschen 2006, S. 76
Foto: Julius Shulman. In: Lamprecht, Barbara: Richard Neutra 1892 - 1979. Gestaltung für ein besseres Leben. Taschen 2006, S. 76


Als überzeugte Nichtkochende, Antigärtnerin und auch sonstigen neuen Praktiken, wie Urban Knitting zutiefst Abgeneigte, bin ich skeptisch gegenüber der Wirksamkeit von urbanen Taktiken, die nur kurzfristig beleben, kann jedoch den dissidenten Praktiken, also allen Lebens- und Liebesexperimenten prinzipiell durchaus etwas abgewinnen. Wenn jedoch Kunst oder Architektur benutzt werden, in einem Terrain Vague von neuem Bauland Kochevents zu veranstalten, um den leeren Raum mit Bedeutung aufzuladen, dann ist das schlichtweg absurd und soll ablenken von einer Planung, die mit herkömmlichen Methoden den öffentlichen Raum zwar herstellt, aber keine differenzierte oder intensive Nutzung garantieren kann.

Fotos: Sabine Pollak/Archiv