Leben im Camp

Schwule Wohnkultur zwischen Klischee und Wirklichkeit

Auf der einen Seite stehen äußerst erfolgreiche Publikationen wie "Gay Living", die das Klischee vom trend- und stilbewussten Schwulen unhinterfragt bedienen. Auf der anderen Seite steht die mitunter erschreckende Realität von sozialen Netzwerken wie Gayromeo, in dem sich ein Großteil der weltweiten Gay Community versammelt.

von UWE BRESAN

Boom lautet der Titel eines Aufsehen erregenden Projekts, mit dem der deutschstämmige New Yorker Architekt Matthias Hollwich vor knapp drei Jahren zum ersten Mal an die Öffentlichkeit ging.

Leben im Camp1 ©Fotos: Gianni Basso: Gay Living - Wohnen mit Style und Glamour, Callwey, 2007 Leben im Camp2 ©Fotos: Gianni Basso: Gay Living - Wohnen mit Style und Glamour, Callwey, 2007
Leben im Camp3 ©Fotos: Gianni Basso: Gay Living - Wohnen mit Style und Glamour, Callwey, 2007 leben im Camp4 ©Fotos: Gianni Basso: Gay Living - Wohnen mit Style und Glamour, Callwey, 2007

Fotos: Gianni Basso: Gay Living - Wohnen mit Style und Glamour,
Callwey, 2007

Im Hinterland der kalifornischen Wüstenmetropole Palm Springs will Hollwich in den kommenden Jahren eine Wohnsiedlung errichten, die speziell auf die Bedürfnisse älterer Homosexueller ausgerichtet ist. Die Wahl des Ortes ist nicht ganz zufällig. Seit den 1960er-Jahren gilt die Stadt aufgrund ihres milden Klimas bei alternden Hollywood-Stars als beliebtes Ruhestandsdomizil und ist mittlerweile mondäner Zweitwohnsitz vermögender Rentner aus ganz Nordamerika, die hier die Wintermonate verbringen. Von den Einheimischen werden sie scherzhaft „Winterbirds“ genannt. Unterstützt wird Hollwichs Vorhaben von einer Reihe international bekannter Architekturbüros auf beiden Seiten des Atlantiks - darunter etwa die renommierte New Yorker Architektengemeinschaft von Elizabeth Diller, Ricardo Scofidio und Charles Renfro sowie das gefeierte Berliner Architekturbüro von Jürgen Mayer H. Jedes der zehn beteiligten Planungsteams hatte die Aufgabe, neben den notwendigen Wohnbauten jeweils ein öffentlich genutztes Gebäude wie Supermarkt, Schwimmbad, Krankenhaus oder Hotel zu projektieren. Den fertigen Arbeiten, die im Einzelnen durchaus die erkennbare Handschrift des jeweiligen Entwerfers zeigen, gelingt in der Zusammenschau ein überzeugendes Gesamtbild, dessen größte Qualität es wohl ist, radikal mit allen gängigen Vorstellungen vom Wohnen im Alter zu brechen.

Better way of life
Boom, wie es sich Hollwich und seine Kollegen vorstellen, hat weder mit dem in Europa beliebten Modell des Betreuten Wohnens, das unter dem wohlklingenden Begriff der Altersresidenz vor allem gesichtslose und entindividualisierte Funktionsbauten meint, noch mit der in Amerika verbreiteten Form der Retirement Communities, abgeschlossener Wohnsiedlungen, die stilistisch irgendwo zwischen Country House Style und Greek Revival liegen, zu tun. Boom ist bunt und vielfältig. Die Gebäude erheben sich sanft aus dem Wüstensand, schwingen sich in die Höhe und beginnen miteinander zu tanzen. So entsteht ein feines Netz aus von Palmen beschatteten, öffentlichen Plätzen, schmalen Durchgängen und Verbindungswegen sowie - davon abzweigend - halbprivaten und intimen Räumen mit Wasserflächen und Swimming-Pools, die jeweils einer Wohngruppe zugeordnet sind. Spontan mag der ambitionierte Architekturzoo von Boom deshalb eher an ein karibisches Ferienresort erinnern als an eine Anlage des Betreuten Wohnens. Doch der Bruch mit den Konventionen ist durchaus gewollt und vor allem der Zielgruppe geschuldet, wie Hollwich in seinen Statements zu Boom immer wieder betont. Die Gay Community hätte sich schon früh von „traditionellen Lebensentwürfen“ verabschiedet und könne deshalb, so Hollwich, als „Vorreiter alternativer Wohnmodelle“ gelten. Zugleich würden homosexuelle Männer - im Unterschied zu anderen - auch im Alter einen „anspruchsvollen und aktiven Lebensstil“ bevorzugen und besäßen darüber hinaus einen „ausgeprägten Sinn für Design“. Sie würden daher die Architektur von Boom als Möglichkeit eines „better way of life“ besonders schätzen. [Boom - A bold new community, Press Kit, 01/10/2011] Einmal mehr beruft sich Hollwich damit auf das gängige Stereotyp, dass der homosexuelle Mann scheinbar von Natur aus über eine bedeutend höhere Affinität zu modernem Design und avantgardistischer Architektur verfügt als andere Menschen.

Gay living
Wie tief verwurzelt und kaum hinterfragt diese Vorstellung in unserer Gesellschaft tatsächlich ist, zeigen Publikationen wie der Bildband „Gay Living“ aus dem Hause Callwey. Der Münchner Verlag, der sich mit seinen seichten Coffee Table Books rund um die Themen „Wohnen, Garten, Kochen & Backen“ vor allem an (Haus-)Frauen mittleren Alters zu richten scheint, beschreibt den „typisch schwulen Wohnstil“ gern als „glamourös, exzentrisch, wunderbar!“ - mit Ausrufezeichen. Das Buch selbst stellt 20 ausgesuchte Häuser und Wohnungen von mehr oder weniger prominenten Schwulen aus ganz Europa vor und „steckt voller Inspirationen“ für die vermeintlich weniger geschmackssichere, weibliche Leserschaft. [Gianni Basso: Gay Living - Wohnen mit Style und Glamour, Callwey, 2007] Ob sich die üppig mit Vintage-Möbeln und Designerstücken dekorierten Arrangements sowie deren entsprechend gekleidete Bewohner tatsächlich zur Nachahmung empfehlen, sei dahingestellt. Neben dem frischen Blumengesteck aus dem eigenen Garten und der - von Frauenzeitschriften gern empfohlenen - unkonventionellen Jahreszeiten-Deko dürfte „Gay Living“ auf dem heimischen Büchertischchen aber auf jeden Fall dazu geeignet sein, vor Freunden und Nachbarn offensiv Toleranz und Stilbewusstsein zu demonstrieren.

Lurid Digs1 ©Fotos: luriddigs.com

Lurid Digs2 ©Fotos: luriddigs.com
Lurid Digs; Fotos: luriddigs.com

Camp als konsequent ästhetische Erlebnisweise
Schon die berühmte US-amerikanische Schriftstellerin und Essayistin Susan Sontag sah im ausgeprägten „ästhetischen Empfinden“ der Homosexuellen den Schlüssel zu deren „gesellschaftlicher Integration“. Auch wenn sie das Stereotyp damit nicht erfunden hat, so trug Sontag mit ihrem legendären Essay „Notes on Camp“ von 1964 doch wesentlich dazu bei, das Bild vom designaffinen homosexuellen Mann gesellschaftsfähig zu machen. Für Sontag beschreibt der Begriff des Camp dabei keinen eigentlichen Stil, wie es „Gay Living“ mit der Behauptung eines „typisch schwulen Wohnstils“ versucht, sondern Camp meint im Sinne Sontags eine moderne „Erlebnisweise“, die „die von den Sinnen wahrgenommene Oberfläche auf Kosten des Inhalts betont“. Camp, als „konsequent ästhetische Erfahrung der Welt“, ist der „Sieg des Stils über den Inhalt“. Übertreibung, Phantastik und vor allem Leidenschaftlichkeit sind die zentralen Eigenschaften des Camp. Und Sontag macht keinen Hehl daraus, welcher gesellschaftlichen Gruppierung sie diese Eigenschaften zutraut: „Jemand anders hätte Camp erfinden müssen“, so Sontag, „wenn es die Homosexuellen nicht schon mehr oder weniger getan hätten. „Sie, die Homosexuellen, so Sonntag weiter, „bilden im großen und ganzen die Vorhut des Camp.“ Sie stellen „die dominierende schöpferische Minderheit in der zeitgenössischen urbanen Kultur dar.“ [Susan Sontag: Anmerkungen zu Camp, in: Susan Sontag: Kunst und Antikunst, Fischer, 1982] Bis heute sind Sontags steile Camp-Thesen kaum hinterfragt wurden. Ganz im Gegenteil: Seit Jahren etwa versucht der US-amerikanische Stadtsoziologe Richard Florida mit Hilfe empirischer Studien zu beweisen, dass ein Zusammenhang zwischen dem kreativen Potential einer Stadt und ihrer Homosexuellen-Dichte besteht. Obwohl heftig umstritten, hat der so genannte „Gay-Index“ seinen Erfinder mittlerweile zu einer internationalen Berühmtheit gemacht. [Richard Florida: The Rise of the Creative Class, Basic Books, 2002] So ist das medial vermittelte Bild des Homosexuellen noch immer das des erfolgreichen Kreativen - sei er nun Modedesigner, Künstler, Innenarchitekt oder Ex-Fußballnationalspieler.

Bruch zwischen Idee und Wirklichkeit
Verbreitet ist auch die Vorstellung, der Homosexuelle verfüge über einen durchschnittlich höheren Wohlstand als seine Mitmenschen, weil er per se nicht mit den Ansprüchen einer auf Fortpflanzung ausgerichteten Langzeitbeziehung konfrontiert ist. Die Tatsache hingegen, dass etwa in Amerika Homosexuelle im Durchschnitt weniger verdienen als ihre heterosexuellen Landsleute, wird kaum beachtet. [David A. Gerstner (Hg.): International Encyclopedia of Queer Culture, Taylor & Francis, 2010] Und auch in Europa fristet der schwule Mann ein eher durchschnittliches Angestelltenverhältnis - gefühlt vor allem im Dienstleistungs- und Einzelhandelssektor. Zwangsläufig ergibt sich damit ein Bruch zwischen Idee und Wirklichkeit - zwischen dem Camp-Ideal Susan Sontags und der real praktizierten Wohnwirklichkeit des Durchschnittshomosexuellen. Wer diese Differenz einmal durchmessen möchte, dem sei hiermit ein besonderer Vergleich angeraten. Auf der einen Seite stehen dabei äußerst erfolgreiche Publikationen wie „Gay Living“, die das Klischee vom trend- und stilbewussten Schwulen unhinterfragt bedienen. Auf der anderen Seite steht die mitunter erschreckende Realität von sozialen Netzwerken wie Gayromeo, in dem sich ein Großteil der weltweiten Gay Community versammelt.

Lurid Digs
Nirgendwo lässt sich der wirkliche Wohnzustand des homosexuellen Mannes im Jahre 2014 besser analysieren als hier. Auf den  Profilbildern der Nutzer - aufgenommen zumeist in den Wohn- oder Schlafzimmern der eigenen Wohnung - offenbart sich allzu oft das ganze Ausmaß gestalterischen Unvermögens. Wohlgemerkt - wir sprechen dabei nicht über das primär im Bildmittelpunkt stehende Objekt der Selbstdarstellung, sondern ausschließlich über die Umgebung, in dem sich dieses Selbst inszeniert. Wer sich schon immer gefragt hat, warum beim Teleshopping-Kanal Harlekin-Puppen verkauft werden, wer Kuscheltier-Automaten mit seinen Ein-Euro-Stücken füttert oder ob wirklich jemand die leuchtenden Kitschbilder im asiatischen Schnäppchenmarkt kauft, der sollte sich hier genau umschauen. Das machen auch die Betreiber von „Lurid Digs“, was man wohl am besten mit „schrille Bude“ übersetzt. Das sechs-köpfige Team - fünf Männer, eine Frau und im Hauptberuf allesamt so etwas wie Lifestyle-Blogger - besprechen auf ihrer gemeinsamen Internetseite Profilbilder aus schwulen Netzwerken wie Gayromeo. Dabei „durchkämmen“ sie die Bildhintergründe „auf der Suche nach Hinweisen und Zeichen“, so die Aussage der Macher, „die tausendmal faszinierender sind als die blanken Hintern oder angeschwollenen Genitalien“ im Vordergrund. Sie betrachten die gezeigten Innenräume „wie eine Handschrift“, die dem, der die „Missgeschicke der Möblierung“ zu deuten weiß, mehr über Abgründe und Untiefen verraten, als es die entblößten Körper im Bildmittelpunkt je tun könnten. [www.luriddigs.com] Was „Lurid Digs“ zeigt, sind die „horrifying gay amateur interiors“, die es laut Klischee eigentlich gar nicht geben dürfte. Dass es sie trotzdem gibt, dürfte vielleicht ein Grund dafür sein, weshalb der Architekt Matthias Hollwich seinen ambitionierten Plan einer Designerstadt für alternde Schwule im Wüstensand von Palm Springs mittlerweile wieder aufgegeben hat.

Fotos: Gianni Basso: Gay Living - Wohnen mit Style und Glamour, Callwey, 2007

Siedlung ©Fotos: Gianni Basso: Gay Living - Wohnen mit Style und Glamour, Callwey, 2007
Siedlung ©Fotos: Gianni Basso
Siedlung; Fotos: Gianni Basso