Ein Lob der Meidlinger Hauptstraße

2010 wurde der Wettbewerb zur Sanierung der Fußgängerzone Meidlinger Hauptstraße international ausgeschrieben; das Hamburger Büro WES LandschaftsArchitektur konnte ihn für sich entscheiden. Ende 2013 wurde der erste Abschnitt, der sich in der Ausführungsplanung befindet, freigegeben. Das Projekt ist in drei Bauabschnitte gegliedert.

Panajota Panotopoulou traf Landschaftsarchitekt Wolfgang Betz in Hamburg und unterhielt sich mit ihm über das Charakteristische der Meidlinger Hauptstraße, und darüber, wie ein Entwurf aus dem Ort heraus entsteht und mit räumlichen Identitäten in bestimmte Atmosphären getaucht werden kann.

Was ist das Besondere an der Aufgabenstellung zur Aufwertung der Meidlinger Hauptstraße?
Wolfgang Betz: Wir planen die Meidlinger Hauptstraße ja nicht auf der grünen Wiese, sondern finden eine Bestandssituation vor, d. h. eine funktionierende Einkaufsstraße mit Aufenthaltsqualitäten und stark gemischter Bevölkerung. Die Straße selbst ist sehr heruntergekommen und sanierungs- und aufwertungsbedürftig.Was das Projekt auch von vielen anderen in Bezug auf das Thema Fußgängerzone oder Geschäftsstraße unterscheidet, ist seine doppelte Funktion: Wesentlich ist, dass die Meidlinger Hauptstraße nicht nur eine Geschäftsstraße ist, sondern ein langer linearer Freiraum mit Aufenthaltsfunktion.

Ihr erster Eindruck?
Alle Informationen waren auf einmal da: die erste Wahrnehmung des Ortes, die Atmosphäre und alles, was mit dem Wettbewerb von diesem Raum erwartet wurde. Mein erster Eindruck war, dass der Raum belebt ist und das Leben in der Straße funktioniert. Ausdrücklich wurde betont, dass man hier im Gegensatz zu den meisten Wiener Geschäftsstraßen in Ruhe einkaufen und verweilen könne. Sehr unterschiedliche Menschen halten sich hier auf, diese heterogene Sozialstruktur war deutlich lesbar. Klar ist, dass die Meidlinger Hauptstraße in die Jahre gekommen ist. Dort und da wurde repariert, geflickt, ausgebessert, asphaltiert. Ich hatte aber nie den Eindruck, dass es hier irgendetwas gibt, was nicht richtig durchdacht war, vielmehr begeisterte mich, dass man als Stadt oder als Bezirk diesen Anspruch hat, einen Aufenthaltsraum und gleichzeitig eine Geschäftsstraße zu schaffen. Eher ungewöhnlich und bemerkenswert!

Hat der Verkehr die Qualitäten der Meidlinger Hauptstraße beeinträchtigt?
Die Verkehrsfunktion hat alles überlagert und die ursprünglichen Funktionen auch negativ beeinträchtigt, deshalb wird sie auch wieder herausgenommen. Es gibt genügend Parkhäuser in unmittelbarer Nähe. Man besinnt sich wieder auf die Qualitäten des Ortes.

Meidlinger Hauptplatz ©WES LandschaftsArchitektur
Meidlinger Hauptplatz; WES LandschaftsArchitektur

Wie sind Sie an das Projekt herangegangen?
Von einer vorhandenen Situation aus – wir sind ja hier mitten im Leben. Wichtig ist, auf die Geschichte des Ortes zu schauen und sich zu fragen, was dieser Ort bedeutet. Harald Bodenschatz, Berliner Städtebau-Professor, hat vor kurzem in seinem Artikel „Lob der Hauptstraße“ geschrieben, dass Hauptstraßen die Lebensadern der Städte waren, Aushängeschilder und Identitätsstifter der Städte. Diese drei wichtigen Motive lassen sich von der Via Aurelia in Rom bis zu den Pariser Boulevards beobachten, die so die „Flanier-Räume“ des Bürgertüms bildeten.

"Hauptstraßen sind die Lebensadern, Aushängeschilder und Identitätsstifter der Städte. Diese drei wichtigen Motive lassen sich von der Via Aurelia in Rom bis zu den Pariser Boulevards beobachten, die so die 'Flanier-Räume' des Bürgertüms bildeten."
Harald Bodenschatz, Institut für Städtebau, TU Berlin

In Meidling sind die Kirche und die Schule an der Hauptstraße, aber auch Geschäfte und Gasthäuser; hier spielte und spielt sich das öffentliche Leben ab und genau das sollte hier wieder reaktiviert werden. Wir haben ein Projekt aus dem Ort und für diesen Ort entwickelt, das man woanders, in einer anderen Stadt, so nicht hätte entwickeln können. So ist eine Abfolge unterschiedlicher Räume entstanden und gleichzeitig eine Erzählstruktur zu dieser Straße.

Wie ist der Entwurf aus dem Ort heraus entstanden?
Ein wichtiges Thema für den Ort ist das Motiv der Quelle. Im Meidlinger Wappen ist eine Nymphe zu sehen, die aus den Quellen aufsteigt, zwei silberne, blau ornierte Kannen hält, dazu ein römischer Altarstein. Die silbernen Kannen sind Sinnbild für den Wienfluß; der römische Altarstein bedeutet, dass schon die Römer die Heilquellen des Gebietes nutzten. Unweit der Hauptstraße befindet sich das Theresienbad, eine Besonderheit in Wien Meidling: Es ist das älteste Wiener Heilbad. Die schwefelhaltige Ursprungsquelle wurde 1755 in einem Garten wieder entdeckt. Das Bild der Schwefelquelle ist der Dampf, der sich in der Farbe Ocker wiederfinden lässt.

Landschaftsarchitekt Wolfgang Betz, Hamburg ©Foto: WES
Landschaftsarchitekt Wolfgang Betz, Hamburg; Foto: WES

Kaiserin Maria Theresia beauftragte einen französischen Arzt, die Heilwirkung des Wassers zu untersuchen, dieser empfahl es als Trinkwasser bei Gelbsucht und Heilwasser bei Hautkrankheiten. Der Hauptstrom wurde 1822 bei Brunnenarbeiten entdeckt und zum Bassin erweitert. „Die Quelle ist warm, sie steht in bestem Rufe und es gab seit 1824 Licht- und Sonnenbäder, Warmbäder, atmosphärische Luftbäder und sogar ein Gärungsbad aus Honig“, schreibt W. C. W. Blumenbach im Jahre 1834 in der Neuesten Landeskunde, Österreich unter der Ens, Carl Reichard’s Verlag, Güns.

In Hamburg waren die Trinkwasserqualität und das Wassersystem vergleichsweise so miserabel, dass es um 1890 noch an die 8.600 Cholera-Tote gab.
 

Theresienbad um 1830 ©Archiv: WES Meidlinger Hauptstraße um 1903 ©Archiv: WES
Autos schossen aus schmalen, tiefen Straßen in die Sichtigkeit heller Plätze. Fußgängerdunkelheit bildete wolkige Schnüre. Wo kräftigere Striche der Geschwindigkeit quer durch ihre lockere Eile fuhren, verdickten sie sich, rieselten nachher rascher und hatten nach wenigen Schwingungen wieder ihren gleichmäßigen Puls. Hunderte Töne waren zu einem drahtigen Geräusch ineinander verwunden, aus dem einzelne Spitzen vorstanden, längs dessen schneidige Kanten liefen und sich wieder einebneten, von dem klare Töne absplitterten und verflogen. An diesem Geräusch, ohne daß sich seine Besonderheit beschreiben ließe, würde ein Mensch nach jahrelanger Abwesenheit mit geschlossenen Augen erkannt haben, daß er sich in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien befinde.

Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen. Die Augen öffnend würde er das gleiche an der Art bemerken, wie die Bewegung in den Straßen schwingt, bei weitem früher als er es durch irgendeine bezeichnende Einzelheit herausfände. Und wenn er sich, das zu können, nur einbilden sollte, schadet es auch nichts.

Robert Musil, Der Mann ohne ­Eigenschaften, Hg. A. Frisé,
Erstes und Zweites Buch, Rowohlt, S. 9


Wie werden die einzelnen Räume gestaltet und betont?
Wir finden einen linearen 900 Meter langen Raum vor, der sich stadträumlich immer wieder durch Gebäuderücksprünge verändert und Querbeziehungen schafft, auch mit dem zentralen „Meidlinger Platzl“. Der Höhenunterschied beträgt 29 Meter, von der Wilhelmstraße / Eichenstraße bis zu jenem Platz, in dessen Nähe auch das Theresienbad steht. Vom höchsten Punkt aus hat man immer wieder eine spannende Aussicht. Man schaut über den Platz auf sehr schöne Gebäude und weit in die Landschaft. Die Querachsen sollten miteinbezogen, und die so genannten Sekundärräume mitentwickelt werden.

Der Eintritt in die Meidlinger Hauptstraße soll so ruhig wie möglich gestaltet werden, dann ein Platz mit Votiv-Säule und auf der anderen Seite die Theresienbadgasse Nord und Süd sowie die Vorzone zum Theresienbad mit einer schönen Pergola. Die Rücksprünge der Architektur, durch die kleine Nischen entstehen, werden betont und mit Sitzmöglichkeiten, Motiven wie z.B. einem Quellstein oder Trinkbrunnen versehen. Auch der Meidlinger Markt soll eingebunden werden. In der Bonygasse gibt es kleine Ahornbäume mit niedrigem Kronenansatz. Wir empfehlen, einen Teppich in die Mitte zu legen, und die Bäume mit geschwungenen Sitzelementen mit Lehne und geschnittenen Heckenelementen einzufassen.

Wie sollen diese Räume in der Meidlinger Hauptstraße gestaltet werden?
Das „Meidlinger Platzl“ ist der zentrale Bereich, dessen komplexe Platzgestaltung von Architekt Boris Podrecca entworfen ist. Wir wollen mit dem Gesamtraum arbeiten, das bedeutet, mit den Fassaden als raumbegrenzenden Kanten. Grundsätzlich funktionieren Plätze über die Nutzung der Ränder; man braucht nicht viele Elemente, man darf auch keine Angst vor Leere und Ruhe haben, wenn die Nutzung, das Raumgefühl, die definierte Atmosphäre stimmen.

Meidlinger Hauptplatz ©Fotos: Panajota Panotopoulou
Meidlinger Hauptplatz; Foto: Panajota Panotopoulou

Sie sprechen von „Atmosphäre“. Entstehen diese nicht durch die Menschen, die einen Raum annehmen?
Eine präzise Raumdefinition ist ein wichtiges Motiv; ohne diese begreift man hier keinen Rhythmus, keine streng definierten Strukturen.

Es gibt hier Teilräume mit verschiedenen Identitäten, Qualitäten und Wirkungen. Der blaue „Linden-Teppich“ mit den vielen Stühlen funktioniert anders als die „Platanen-Terrasse“ mit dem Wassertisch und dem präzise geschnittenen Platanendach. Hier gibt es eine Überlagerung mit Schanigärten. Am zentralen Meidlinger Platzl greifen wir am Wasserbecken die historische Schwefeldampfquelle mit Licht und ockerfarbenen Tönen auf. So entsteht eine stilisierte Welt, eine präzise gefasste Welt, die in ein gelb getöntes Licht getaucht wird. In Bezug auf die Baumreihen haben wir einen Rhythmus zwischen offenen und dichteren Bereichen entwickelt. Licht und Schatten spielen natürlich eine große Rolle für die Atmosphäre und für die Aufenthaltsqualität. Das Steinsofa funktioniert im Grunde als zeitgemäßes Möbel.
Der öffentliche Raum als Wohnzimmer...

Im Grunde ist es ein öffentliches Wohnzimmer, eine Situation, die wir zu Beginn vorgefunden haben; die Leute halten sich hier auf, treffen sich, sitzen hier am Platz und in der Fußgängerzone.

Wie gehen Sie mit Materialität und Farbe um?
Der Bodenbelag besteht aus einer linearen Struktur, auch am zentralen Platz. In der Perspektive bekommt man ein Gefühl für die Farbigkeit; wobei die Farbe Ocker den Belag, die Raummöblierung und Leuchten dominiert. Sie ist Leitthema. Wir haben uns auch dafür entschieden, mit hellem Granit und drei verschiedenen Tönen zu arbeiten. Der Teppich im Bereich der befahrenen Niederhofstraße wird nicht aus Asphalt, sondern aus Beton hergestellt. Ein Ziel ist, die Fahrbahn in das Gesamtkonzept zu integrieren. Der bestehende Blauglockenbaum funktioniert dort wie eine Skulptur, eine Art Solitär. Im Grunde entsteht ein sehr einfaches ruhiges Bild, ein Gesamtraum mit dem Wasserspiegel und Sitzkanten im Zentrum; und es gibt trotz dieser Ruhe und Großzügigkeit vielfältige Details in den Randbereichen.

Wie fassen Sie Ihr Gesamtkonzept zusammen?
Der Raum der Meidlinger Hauptstraße soll mit einer charakteristischen Formensprache und Farbe über 900 Meter Länge neu definiert werden. 22 Bäume werden gefällt, 60 neue gepflanzt, und Sitzmöglichkeiten zahlenmäßig erhöht. Es ist ein Projekt, das aus dem Ort heraus entwickelt worden ist. Es geht um Räume, Inhalte und Atmosphäre; wir wollen Angebote schaffen und nicht diktieren. Unser Ziel ist, die Meidlinger Hauptstraße als Folge individueller Teilräume im Sinne einer Erzählstruktur neu wahrnehmbar zu machen. Wie die Räume später von den Menschen angenommen werden, kann man nicht vorgeben, sondern bestenfalls durch Planung ermöglichen.