Das Haus, das aus der Lücke wächst

von MAX BRUSTBAUER
Das kleinste Haus der Welt für den israelischen Schriftsteller Etgar Keret.

Es sollte die Proportionen seiner Geschichten haben: minimalistisch und kleinstmöglich. Der polnische Architekt Jakub Szczesny hat eine Lücke gefüllt, die an der breitesten 122 und an der schmalsten Stelle nur 77 Zentimeter breit ist; auf drei Ebenen ergibt das 14,5 m2  Wohnfläche. Und ja, noch nie sind Anspruch und Realität so ineinander übergegangen, denn sowohl dem Haus als auch Kerets Kurzgeschichten fehlt es an nichts: ein Arbeitsplatz, ein Bett, eine Dusche, ein Klo, eine Küche und Kerets Geschichten, mehr braucht der Mensch nicht!

Keret erschafft Figuren, die seiner Phantasie scheinbar von irgendwo zugeflogen sind, wie etwa der Mann, der in seinem eigenen Traum auftaucht und dort den Figuren seiner gelogenen Ausreden begegnet: einem jungen Rotschopf mit Zahnlücke, seiner ersten Lüge, dazu Verwandte, die gestorben sind, ohne je gelebt zu haben. Jetzt muss sich der Rothaarige rechtfertigen und die Leser bleiben über und fragezn sich: Vor wem und warum und weshalb macht die Geschichte dann überhaupt wieder Sinn?

Das kleinste Haus der Welt in Warschau1 ©kerethouse.com Das kleinste Haus der Welt in Warschau ©kerethouse.com

Das kleinste Haus der Welt in Warschau für Schriftsteller Etgar Keret

Kerets Familie stammt ursprünglich aus Polen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam seine Mutter über Umwege nach Israel und hier war es, wo Etgar geboren wurde und schließlich aufgewachsen ist. Seine Mutter bezeichnet ihn dennoch als einen polnischen Exilschriftsteller. Tatsächlich ist sein Erfolg in Polen und Deutschland am größten. Das liegt aber wohl eher am Schreibstil, denn an anderen Umständen, denn ganz unweigerlich taucht beim Lesen der teils phantastisch-realistischen Erzählungen einer der großen beobachtenden Erzähler eines vergangenen Europas im Kopf des Lesers auf: Joseph Roth. Auch ihm gelang es, in seinen zahlreichen Feuilleton-Texten Stimmungen einzufangen und ganz besonders widerzugeben. Was bei ihm etwa der Trinker in einer Berliner Armenküche der 1920er Jahre war, ist bei seinem literarischen Nachfahren der Broker, der seinem Freund das System der Börse erklärt und die beide am Schluss dann gemeinsam den Aktiendrachen am Schwanz packen und den blauen Himmel spalten, nur „damit wir nicht fallen“.

Obwohl so klein, drängt sich das Haus in der Chlodna-Straße in Warschau auf, es füllt keine Lücke, sondern wächst aus ihr heraus. Früher stand hier ein anderes Bauwerk, eine Brücke, ein verbindendes Element also, von damals und auch von heute. Kerets Mutter ging selbst über diese Brücke, oft, weil sie vom kleinen ins große jüdische Ghetto musste.

Keret schafft etwas Einzigartiges, etwas schon lange nicht mehr Gelesenes: Er fängt die unscheinbarsten Momente des Alltags in ihrer absoluten Schönheit ein. Er sieht etwas, wie nur er es sehen kann. Warum ein Mann soviel Zeug in seiner Tasche mithaben muss? Eine einzelne, verbogene Zigarette, einen Zahnstocher und einen Stift? Keret sagt es: für ein ihn darum fragendes und ihm mit einem Lächeln antwortendes DU und die „winzige Chance, ja zu sagen und nicht bedauern zu müssen.“ Schöner wurden alltäglich banale Momente noch nie zuvor beschrieben.

Fotos: kerethouse.com